Guenther roth biography of william


Nachruf auf Guenther Roth (1931–2019)

Guenther Roth war ein großer und großartiger Vermittler zwischen amerikanischer und deutscher Soziologie. Geboren in Wolfskehlen und wie Kurt Wolff aufgewachsen in Darmstadt begann er sein Soziologiestudium am Frankfurter Institut für Sozialforschung. Dort lernte er eben jenen Kurt Wolff kennen, der ihn für eine Studie über die Entnazifizierung Deutschlands 1953 an die Ohio State University holte. 1954/55 folgte ein Studienaufenthalt an der New School for Social Research, wo er die deutschen Emigranten Albert Salomon, Alfred Schütz und Otto Kirchheimer kennenlernte. Reinhard Bendix bot ihm 1955 eine Stelle an der University of California in Berkeley an, die den Beginn seiner akademischen Karriere in den USA markierte. Er begann mit Studien zur Arbeiterbewegung im Kaiserreich, die in seine Dissertation einmündeten. In seinem Buch The social democrats in imperial Germany (1963) entwickelte er das Konzept der „negativen Integration“. Zwar sind die Arbeiter über alle möglichen Kanäle intern geeint – von der Partei über die Gewerkschaften bis hin zu Vereinen. Aber sie gehören doch nicht richtig zur Gesellschaft, weil sie vom politischen Entscheidungsprozess ausgeschlossen bleiben. Roth nahm in der Folgezeit Professuren an der University of California in Davies, der State University of Stony Brook und der University of Washington in Seattle wahr, bevor er mit seiner Frau Caroline W. Bynum, einer bekannten Historikerin, einem Ruf an die Columbia University in New York folgte.

Vor allem durch die Zusammenarbeit mit Reinhard Bendix, der zu dieser Zeit sein bahnbrechendes Werk Max Weber. An intellectual portrait (1960, dt. 1963) ausarbeitete, geriet er in Berührung mit dem Werk des deutschen Klassikers, das ihn zeit seines Lebens nicht mehr loslassen sollte. Die Übersetzung des Werkes ins Englische, seine Anwendung zu eigenen Analysen und die biographische Familiengeschichte werden Roths wissenschaftliches Forschungsprogramm im Anschluss an Max Weber ausmachen.

Die erste große Vermittlungsleistung bestand in der von 1962 bis 1968 mit Claus Wittich erfolgten Übertragung von Wirtschaft und Gesellschaft, die Standards setzen sollte als beste englischsprachige Weber-Übersetzung. Zwar hatte bereits in den 1920er-Jahren Frank Knight die Übertragung von Webers Wirtschaftsgeschichte initiiert, allerdings ohne die begriffliche Vorbemerkung – was sicherstellte, dass das Werk ziemlich unverständlich bleiben musste. C. Wright Mills hatte dank der Zusammenarbeit mit dem deutschen Emigranten Hans Gerth From Max Weber. Essays in sociology (1945) herausgebracht – der bis auf den heutigen Tag einflussreichsten Textsammlung nicht nur im amerikanischen, sondern auch im internationalen Kontext. Talcott Parsons hatte mit A. M. Henderson die ersten vier Kapitel von Wirtschaft und Gesellschaft unter dem Titel Theory of social and economic organization (1947) übersetzt, Weber in seiner ausführlichen Einleitung jedoch als Vorläufer seiner eigenen Theorie des sozialen Handelns präsentiert. Edward A. Shils und Henry A. Finch hatten Webers Wissenschaftslehre unter dem Titel Max Weber on the methodology of the social sciences (1949) herausgebracht. Doch erst Roths Übersetzung machte eine textgenaue und begrifflich einschlägige Auseinandersetzung mit Max Weber möglich.

Die Auseinandersetzung mit einer Weberianischen Soziologie setzte Roth sodann mit zwei Bänden fort: Scholarship and partisanship (1971, mit Reinhard Bendix) und Max Weber’s vision of history (1979, mit Wolfgang Schluchter). Seine eigenen makrosoziologischen und historischen Analysen vermochte er als Max-Weber-Professor in Heidelberg auch einem deutschen Publikum vorzustellen. Politische Herrschaft und persönliche Freiheit (1987) vereinigt seine wichtigsten Studien, mit denen Roth unter Beweis stellt, wie sich soziologische Analysen mit Webers Ansatz anstellen lassen. Mit dem Historiker Hartmut Lehmann gab er einen einflussreichen Band zur Diskussion um Webers Protestantismusthese heraus – Max Weber’s Protestant Ethic (1991) –, der den Diskussionsstand zu diesem klassischen Text dokumentiert.

Als Marianne Webers Lebensbild ihres Gatten als Taschenbuch neu aufgelegt wurde, konnte Guenther Roth mit seiner großen und gelungenen Einleitung „Marianne Weber und ihr Kreis“ (1989) den historischen und familiengeschichtlichen Kontext ausleuchten. Das signalisierte den Übergang zur Familiengeschichte als dritter Säule seines Weber-Forschungsprogramms. Was als „Einleitung“ begann, mündete schlussendlich in die fulminante Studie über Max Webers deutsch-englische Familiengeschichte 1800–1950 (2001), in der er Weber nicht nur als „would-be Englishman“ präsentierte, sondern ein ganzes Porträt des kosmopolitischen deutsch-englischen Großbürgertums zeichnen konnte. In der Folgezeit entwickelte sich Roth regelrecht zum Sherlock Holmes transnationaler Familiengeschichten. Durch Zufall geriet er in den Besitz der Briefsammlung von Else Jaffé von Richthofen und nutzte diese einzigartige Quelle zu einer Dokumentation: Edgar Jaffé, Else von Richthofen and their Children: From German-Jewish assimilation through antisemitic persecution to American integration. A century of family correspondence 1880–1980 ist beim Leo Baeck Institute in New York erschienen (2012) und kann auch online konsultiert werden (www.lbi.org/digibaeck/results/%C3%9Fqtype=pid&term=1505570). Ohne diese informative Dokumentation hätte Eberhard Demm nicht seine eindrucksvolle Studie über Else Jaffé-von Richthofen. Erfülltes Leben zwischen Max und Alfred Weber (2014) schreiben können. Einmal auf den Geschmack gekommen, gelang Roth kurz darauf ein zweiter Coup: Auf einem Dachboden in Baltimore entdeckte er die Korrespondenz zwischen Kurt Riezler und seiner Verlobten Käthe Liebermann, Tochter des Malers Max Liebermann, die er 2016 mit dem Hist​oriker John Röhl, dem Biographen von Wilhelm II., publizierte.

Roth war ein Soziologe, Historiker und deutsch-amerikanischer Intellektueller, dessen gelehrte Stimme im transatlantischen Austausch zwischen Amerika und Deutschland fehlen wird. Obgleich kein Emigrant, stellte sein Schaffen eine wichtige Brücke zwischen der neuen Welt der Vereinigten Staaten und der Wiege der Soziologie im alten Europa dar. Ohne einen solch kundigen Vermittler zwischen den Welten wie Guenther Roth ist seither die deutsche Soziologie provinzieller und die amerikanische Soziologie globaler geworden – mit der Folge, dass die hiesige Wissenschaft aus dem Horizont der amerikanischen Sozialwissenschaften so gut wie verschwunden ist. Denn auch Max Weber als Klassiker ist längst global, und das heißt: amerikanisch geworden, folgt doch das Gros von ausländischen Übersetzungen nicht der deutschen Textgrundlage, sondern den amerikanischen Ausgaben.

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Müller, HP. Nachruf auf Guenther Roth (1931–2019). Berlin J Soziol30, 453–455 (2020). https://doi.org/10.1007/s11609-020-00424-4

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